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Adipositas bei Kindern

Bildnachweis:© fotofun - Fotolia.com

Überall im Alltag begegnen Kinder süßen und fettigen Versuchungen: Gummibärchen an der Bude, das Nutellabrot in der Brotdose, der Döner auf dem Heimweg und die Tüte Chips beim Fernsehen. Zusammen mit wenig Bewegung ist das die Ursache für eines der größten Gesundheitsrisiken unserer Zeit: Übergewicht. Zahlen vom Robert-Koch-Institut zeigen, dass bereits 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen von 3 bis 17 Jahren übergewichtig sind. 6,3 Prozent davon leiden unter Adipositas, also behandlungsbedürftigem, schwerem Übergewicht.

Die Gründe für Übergewicht sind bekannt. Während unsere Großeltern am Tag noch etwa 12 Kilometer gelaufen sind, bewegen wir uns heute im Durchschnitt nur noch etwa 1200 Meter zu Fuß. Zudem nehmen wir immer mehr Kalorien zu uns, die nicht satt machen. Unser Organismus unterstützt dieses Verhalten: Süßes und Fettiges machen uns glücklich. Denn in den frühen Phasen der Menschheitsentwicklung mussten unsere Vorfahren für eventuelle Hungerphasen gewappnet sein und kalorienreiche Nahrung war entsprechend wichtig. Doch heute sind solche Mechanismen eigentlich nicht mehr notwendig. Denn wir werden überschwemmt mit einem riesigen Nahrungsangebot. Studien der amerikanischen Verbraucherschutzbehörde Federal Trade Commission zeigen, dass Kinder im Durchschnitt etwa 6.000 Werbespots für Süßigkeiten, Limo, Fastfoodketten und ungesunde Getreideprodukte pro Jahr sehen.

Psychologische Gründe für Übergewicht

Aber ist das reine Überangebot an Nahrungsmitteln tatsächlich der Hauptgrund für Übergewicht? Müssten dann nicht alle Kinder viel zu schwer sein? Die Diplom-Psychologin Dr. Marlies Pinnow nähert sich dem Thema „Übergewicht bei Kindern“ von der psychologischen Seite. Sie leitet die Forschungsgruppe „Motivation“ an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum. Zusätzlich arbeitet sie mit stark übergewichtigen Kindern im Adipositas-Zentrum Oberhausen. Sie ist überzeugt, dass Übergewicht häufig auch psychische Ursachen habe. Die Ausprägung bestimmter psychischer Eigenschaften beeinflusse das Risiko, zu dick zu werden. „Übergewichtige Kinder haben oft kognitive Defizite in den Bereichen Selbstkontrolle und Belohnungsaufschub. Außerdem sind sie häufig sehr impulsiv und wenig aufmerksam. Es fällt ihnen also im Allgemeinen schwerer, Versuchungen zu erkennen und diesen zu widerstehen“, erklärt sie. Als Psychologin kommt sie ursprünglich aus dem Forschungsgebiet Magersucht. Sie beschäftigte sich mit den psychischen Mechanismen, mit denen Magersüchtige ihr extremes Hungergefühl unterdrücken und ihr Belohnungszentrum im Gehirn manipulieren, beziehungsweise ignorieren können. Fähigkeiten, die bei Übergewichtigen scheinbar weniger ausgeprägt sind.

Schon in den 1960er Jahren stellte Professor Walter Mischel an der Stanford University fest, dass Kinder unterschiedlich mit angebotenen Süßigkeiten umgehen. Im sogenannten „Marshmallow-Test“ legte er eine Packung Marshmallows vor etwa vierjährigen Kindern ab. Er erklärte ihnen, dass sie sofort ein Marshmallow haben könnten. Wenn sie sich aber gedulden würden, bis er zurückkommen würde, dürften sie sogar ein zweites bekommen. Einige Kinder konnten warten, andere versuchten sich abzulenken und wieder andere konnten nicht widerstehen und nahmen sich sofort ein Marshmallow. Eine Studie von Doktor Lori A. Francis und Doktor Elizabeth J. Susman der  Pennsylvania State University aus dem Jahr 2009 zeigt, dass dieses Verhalten vermutlich direkt mit einem Anstieg des Gewichts zusammenhängt. Es zeigte sich, dass Kinder, die schlechter als andere Kinder in den Bereichen Selbstkontrolle und Selbstmanagement abschnitten, eine generell stärkere Gewichtszunahme zeigten, als Kinder, die psychisch keine Probleme aufwiesen.

Therapien anpassen

Marlies Pinnow lässt diese Erkenntnisse in die Therapieangebote für übergewichtige Kinder einfließen. „Eine Standard-Therapie bei starkem Übergewicht läuft in der Regel etwa ein Jahr. Die Betroffenen werden ärztlich betreut, halten Diät, machen Sport und ändern ihren Lebensstil. Leider zeigt die Erfahrung, dass diese Therapien langfristig nicht sehr wirksam sind“, sagt Pinnow. „Aber man kann auch an den psychischen Defiziten arbeiten und diese verbessern. Die Hirnregion, die für Selbstkontrolle, das Unterdrücken von automatisierten Handlungen und Entscheidungen zuständig ist, entwickelt sich noch bis zu einem Alter von 24 Jahren“, erklärt die Psychologin. Die Therapieergebnisse seien dann langfristig besser. Deshalb wird in neuen Therapieansätzen ein Psychologe in die Betreuung des Übergewichtigen mit einbezogen. Doch die mentale Entwicklung, die auf verbesserte Selbstregulierung abzielt, braucht Zeit. „Wenn wir an den mentalen Fähigkeiten arbeiten wollen, brauchen wir etwa drei Jahre. Anfänglich kommen die Patienten jede Woche zu uns, im dritten Jahre reichen Termine alle drei Monate.“ Eine solche Therapie kann auch ohne direkte Einbeziehung der Eltern erfolgen. Die Erfahrung zeige, dass spätestens zu Beginn der Pubertät eine Therapie begonnen werden müsse. „Es bringt kaum etwas, den Eltern immer mit erhobenem Zeigefinger Vorwürfe zu machen. Wenn die Eltern bis zum 14. Lebensjahr ihres Kindes nicht eingesehen haben, dass es übergewichtig und eine gesündere Ernährungsweise notwendig ist, wird diese Erkenntnis auch später kaum kommen.“ Stattdessen könne man sich die natürliche Abnabelung von den Eltern während der Pubertät therapeutisch zunutze machen. „Während der Pubertät beginnen Kinder damit, unabhängiger zu werden und ihr Leben selbst gestalten zu wollen. Das ist ein guter Ansatz, um einen langfristigen Lebenswandel herbeizuführen“, sagt Pinnow.

Sensibilisierung ist für alle wichtig

Für den Bereich Früherkennung, Sensibilisierung und Prävention macht sich Marlies Pinnow ebenfalls stark. Auch hier arbeitet sie direkt mit Kindern zusammen. Als Teil des Programms „KinderUni  Bochum“ bietet sie beispielsweise den Workshop „Miss und Mister Vielfraß“ für Grundschüler an. Der Workshop mit Experimenten und Spielen richtet sich dabei an alle Kinder, egal ob normal- oder übergewichtig. Spielerisch lernen die Kinder den Unterschied zwischen gesundem und ungesundem Essen kennen. Sie ordnen verschiedene Nahrungsmittel in die Kategorien „esse ich gern“, „esse ich nicht so gern“ und anschließend in „langfristig gesund“ und „langfristig ungesund“ ein. Mit dieser Methode werden sie selbst zum Forscher und können ihre Ernährung besser kontrollieren. Zuhause können die Kinder rote und grüne Punkte sammeln und an ihre Eltern vergeben, um so  herauszufinden, wer in der Familie langfristig am gesündesten isst. Mit Hilfe eines speziellen, vier Kilogramm schweren Anzuges erfahren Kinder während des Workshops sogar am eigenen Körper, wie es sich anfühlt, dick zu sein. „Um schweres Übergewicht naturgetreu zu simulieren, hätte ich den Anzug mit etwa 14 kg Sand füllen müssen. Dann kann man ihn aber kaum noch heben“, berichtet die Dozentin Pinnow. „Aber schon 4 kg zeigen Kindern, Eltern und Therapeuten, was sich hinter dem so locker ausgesprochenen „Na dann nimm halt ab“ eigentlich verbirgt. Außerdem macht der Anzug deutlich, wie sehr man durch Übergewicht im Alltag eingeschränkt ist. Beim Treppensteigen oder Laufen zum Beispiel.“ Marlies Pinnow hofft, dass in Zukunft viele Eltern und Kindern für das Thema sensibilisiert werden. „Leider ist das Gesundheitssystem in Deutschland nicht sehr stark auf die Früherkennung und Vermeidung von Übergewicht ausgelegt“, beklagt sie. Therapien würden häufig erst dann beginnen, wenn es eigentlich schon zu spät sei. „Eine eingeschränkte Selbstkontrolle lässt sich schon durch einfache Tests feststellen. Dann könnte man sofort mit vorsorglichen Maßnahmen beginnen.“ Sie bietet deshalb auch selbst Beratungstermine an, in denen man schnell einschätzen kann, ob ein Kind eventuell psychologische Unterstützung benötigt, um nicht weiter unkontrolliert an Gewicht zuzulegen.

Wo bekomme ich Hilfe?

Übergewicht wird mithilfe des Body-Mass-Index bestimmt. Genaue Berechnungen finden Eltern im Internet www.mybmi.de/main.php. Sollte sich herausstellen, dass ihr Kind an Übergewicht leidet, können die Adipositas- Zentren helfen. Zentren in Bochum und Dortmund finden Sie im Internet. Auch Dr. Marlies Pinnow bietet Sprechstunden im Institut für Motivation an der RUB an. Genau Kontaktdaten finden Sie unter www.motivation.psy.rub.de.

Bettina Fischer

 

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