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Vom rasenden Ernst des Lebens

The Hämpels: Grafik der Familie The Hämpels
Bildnachweis: Jörn Stollmann

Wenn beim Anblick von Jamie im Alter von 0-2 Jahren jemand meinte, »Der ist aber groß geworden«, dann habe ich stets laut glucksend geantwortet: »Jau, stimmt. Der kommt bald schon in die Schule!« Danach haben wir uns den kleinen Mann vor uns noch einmal genau angeschaut und sanft gelächelt. Schule – das war damals so herrlich weit weg. Vor uns stand dieses Miniaturwesen mit Babyspeck im Gesicht und gab knuffige Laute von sich. Kein Gedanke an den »Ernst des Lebens«, von dem bei der Verabschiedung im Kindergarten viele Jahre später alle sprachen. Sophia und ich waren uns damals sicher: Dieses süße, unschuldige Geschöpf würden wir niemals mit einem umgeschnallten Tornister aus den Händen geben. Und wenn dann doch dieser unvorstellbare Tag einmal kommen sollte, dann wäre er wenigstens noch in sehr weiter Ferne. Unendlich weiter Ferne. Heute denke ich: Wie konnten wir uns da nur so irren?
Die Jahre flogen vorbei. Unbeschreiblich schnell. Viel zu schnell. Der Kopf kam kaum noch hinterher. Es ist nicht nur eine Floskel, nein, ich fühle es genau so: Mir ist, als ob ich Jamie eben gerade erst das erste Mal alleine im Kindergarten zurücklassen musste. Und im nächsten Moment schieße ich schon das Abschiedsfoto von ihm vor seinem Platz zum Umziehen im Kindergarten. Ich sehe noch im Sucher des Fotoapparats dieses schüchterne Lächeln eines kleinen Menschen, der Abschied nimmt, ohne genau zu wissen, was das überhaupt bedeutet.
Jamie ahnte nur, was jetzt kommen würde – aber ich wusste es. Schließlich war ich es ja auch gewesen, der diesen Tag vor Jahren als weit entfernte Zäsur in unserem Leben auserkoren hatte. Und nun war dieser Augenblick tatsächlich gekommen und ich musste mir eingestehen, dass ich selbst noch gar nicht bereit war, Jamie gehen zu lassen – hinaus, mit einem riesigen Tornister auf dem Rücken, zum »Ernst des Lebens«.
Das ist jetzt alles auch schon wieder zwei Jahre her. Die Zeit ist unerbittlich weitergerast. Aus unserem kleinen Baby ist ein großer Junge geworden, bei dem man Speck höchstens noch in Form von Mäusespeck findet. Und dennoch: Wenn ich mir heute die Bilder des Tages der Einschulung anschaue, kann ich gar nicht glauben, dass wir es damals zugelassen haben, Jamie in diese große weite Welt der Erwachsenen zu entlassen. So klein, so zerbrechlich wirkt er auf diesen Fotos. Aber er hat es gemeistert. Alles. Ganz alleine. Und wie!
Doch neben den Stolz auf all die vielen kleinen Schritte, die Jamie seitdem tapfer und voller Zuversicht voran gegangen ist, hat sich allmählich, ganz langsam ein anderes Gefühl geschlichen. Anfangs war es nur ein diffuses, flüchtiges Gedankengemisch. Und das klang so: Was ist eigentlich, wenn alles so schnell vorübergeht, wie die Zeit vom Babyalter bis zur Schule? Wenn man sich selbst dabei erwischt, wie man nicht mehr hinterher kommt? Wie die Jahre an einem vorbeirasen und man eines Tages aufwacht und alles ist vorbei? Die Kinder, die eben noch sanft schlafend in deinem Arm lagen, plötzlich aus dem Haus sind? Der Lärm, das Kuscheln, die Unordnung, der Spaß, das Chaos – all das ist auf einmal nur noch Vergangenheit. Foto-Erinnerungen, ohne eine tagtägliche, gemeinsame Zukunft.
Immer häufiger kreisten diese Gedanken in meinem Kopf herum. Und dann, eines Tages, war dieses ganz spezielle Gefühl schlagartig und ohne Vorwarnung einfach da: Abschiedsschmerz!
Alleine die Vorstellung, dass alles einmal ein Ende nimmt, ließ auf einmal trübe Gedanken aufkommen. Seltsamerweise! Denn zuvor hatte man sich in besonders stressigen Situationen doch noch als sanftes Eigen-Beruhigungs-Mantra die kinderlose Zeit in den rosarotesten Farben ausgemalt. Was würde man nicht endlich alles wieder in Ruhe, eigenständig und ohne Rücksichtnahme auf irgendjemanden tun können? Das schienen traumhafte Zeiten zu werden.
Das werden sie noch immer. Anders, aber auch schön. Und es gibt noch stets die Augenblicke, in denen man die Kinder auf den Mond schießen möchte – wenigstens für ein entspanntes Pärchen-Wochenende. Doch was komplett anders ist, seitdem der erste vorgezogene Abschiedsschmerz durch den Kopf waberte: Man versucht jeden einzelnen Moment noch mehr zu genießen, weil man mittlerweile einzuschätzen weiß, wie schnell die Zeit tatsächlich an einem vorbeirast.
Bei Charlie habe ich nicht ein einziges Mal die Zukunftsvision ‚Schule’ in den Mund genommen. Und auch bei Jamie spare ich mir seit der Einschulung kleine Verweise, beispielsweise auf den Tag, an dem er das erste Mal Sophia und mich mit dem Auto von einer Party abholt. Ich kann mir das mittlerweile zwar nur zu gut vorstellen – möchte aber, dass dieser Tag noch sehr weit in der Zukunft liegt.
Und während Sophia gerade meint, sie würde jetzt schon heulen müssen, wenn sie nur an den Moment denken würde, wenn Jamies Grundschulzeit zu Ende gehen würde, stupst mich Charlie unten an meine Wade. Seit gestern läuft er ununterbrochen mit einem kleinen Handtuch aus dem Gäste-WC herum. Voller Stolz möchte er mir noch einmal zeigen, wie toll er falten kann. Ja, Sie haben richtig gelesen: tatsächlich falten. Dafür legt er das Handtuch ausgebreitet auf den Boden und faltet es dann in vier Schritten wieder zusammen. Hat man es selbst nicht mit eigenen Augen gesehen, glaubt man nicht, wieviel Freude Charlie bei dieser Tätigkeit entwickeln kann. Vor allem, wenn man weiß, dass niemand ihm das gezeigt oder dazu ermuntert hat. Was für ein überragender Moment!
Und er wird im selben Augenblick noch gekrönt, weil Charlies älterer Bruder Jamie mit all seiner Lebenserfahrung, die er sich nicht zuletzt in den lehrreichen Jahren der Schule mühsam aufgebaut hat, konstatiert: »Super, Charlie. Jetzt, wo du so gut falten kannst, kriegst du bestimmt nen Job bei Aldi oder Lidl!«
Wie er darauf kommt? Keine Ahnung. Aber mich dürfen Sie ja auch nicht fragen. Ich bin schließlich der Papa, der früher immer meinte, die Zeit würde still stehen.
Allen Schulanfängern einen tollen Start in den »Ernst des Lebens«. Die Hämpels wünschen euch und euren tapferen und stolzen Eltern viele unvergessliche Momente!

Ben Redelings

admin
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