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Zehn Jahre und kein bisschen…

Wir Menschen sind schon eine sonderbare Spezies. Ich meine: Wir haben gerade Kaulquappen zu Hause zu Besuch – und? Wo sind da Mama und Papa? Nee, nee, die Kleinen entwickeln sich von ganz alleine. Und das machen sie prächtig. Ich sehe da niemanden, der sie vom Grund des Einmachglases nach oben an die Oberfläche kutschiert oder sie permanent anhält, mal ordentlich die Kiemen zu reinigen. Das kriegen die komplett selbstständig hin. Das ist schon faszinierend mitanzusehen. Und bei uns? Da ruft der fast zehnjährige Sohn aus der mittleren Etage per Telefon beim Vater im Büro eine Etage drüber an, weil unten im Wohnzimmer die Freundin vom Siebenjährigen, die zu Besuch, aber eigentlich hier fast schon zu Hause ist, ein Glas Orangensaft auf den Boden verschüttet hat. Als Papa dann wie dieser japanische Schnellzug runtergerannt kam, standen die beiden Kleinen wie die Unschuld vom Lande tatenlos mit einem Lappen in der Hand da und fragten mit weit aufgerissenen Mäulern in ihren Engelsgesichtern: „Ist das der richtige?“. Da möchte man am liebsten ‚scheißegal’ brüllen und sich an den Kopp packen. Hat denn denen tatsächlich niemand beigebracht, welchen Lappen man in so einem Fall benutzen soll? Mein Gott: JEDEN, natürlich. Hauptsache die Schweinerei ist beseitigt, bevor die Mutter nach Hause kommt.
Aber: Damit da keine Missverständnisse entstehen – das ist natürlich nicht uns, sondern einem Freund passiert. Nicht, dass einer denkt, unsere Kinder wären noch nicht selbstständig genug, alleine mit so einem kleinen Malheur umzugehen. Man muss sich das einmal vorstellen. Eine im Jahr 2016 veröffentlichte Studie besagt, dass in Deutschland im Alter von 25 Jahren noch 34 Prozent der männlichen Bevölkerung bei den Eltern leben. In einem Alter also, in dem sie früher bereits das erste Mal an die Rente dachten, wohnen ein Drittel der Jungs noch bei Mama und Papa. Und warum? Da hatten die Forscher auch eine Antwort drauf: Weil sie im kuscheligen, heimischen Nest den Arsch hinterhergetragen bekommen. Hotel Mama. Rundumversorgung mit allem Pipapo. Vom Weckservice am Morgen über drei Hauptmahlzeiten mit Zwischensnacks am Tage bis zum chilligen Fernsehausklang auf der Couch am Abend. Natürlich mit handgereichtem Imbiss, der gemütlich schmatzend verzehrt wird, während die Eltern noch einmal die Schulsachen für den nächsten Tag kontrollieren. Aber warum nehmen dann die Mädels so viel früher von zu Hause Reißaus als die Jungs? Auch da haben die Wissenschaftler eine schlüssige Begründung für: „Töchter haben oft weniger Freiheiten. Das kann die Motivation erhöhen, das Weite zu suchen. Sie helfen häufiger im Haushalt und sind daher selbstständiger.“ Aha. Das bedeutet ja, aufs Nötigste heruntergebrochen, schlichtweg: Lass Deine Jungs den Müll rausbringen, die Spülmaschine ausräumen und den Gartenzaun streichen – dann hast Du gute Chancen, dass sie wie die Mädels die Flucht ergreifen. Die Frage ist da nur: Will man das denn überhaupt? Vor allem, wo die Zeit zusammen mit den Kleinen so schnell davonrast.
Unser Ältester wird in diesen Tagen bereits zehn Jahre alt. Das ist einerseits unglaublich und andererseits beunruhigend. Schließlich bedeutet das ja auch, dass wir – Sophia und ich – um ebenso viele Jahre gealtert sind. Überraschenderweise sieht man das meiner Frau nicht an. Lange Zeit hatte ich die Vermutung, sie wäre als Kind in eine Art Jungbrunnen gefallen, bis mir jemand glaubhaft vermittelte, dass die Geschichten von Asterix und Obelix nur Fiktion seien. Also auch die Sache mit dem Kessel voller Zaubertrank. Egal. Auf jeden Fall habe ich mittlerweile eine neue Theorie entwickelt, denn schon länger hege ich die Vermutung, ihr jugendliches, faltenfreies Aussehen könnte etwas mit ihren Cremes zu tun haben, die sie im Badezimmer immer genau vor der Steckdose – das wäre jetzt ein anderes Thema – platziert hat. Seitdem creme ich meine sensible Haut jeden Morgen nach dem Duschen mit Nivea ein. Das hat schon mein Vater immer gemacht. Allerdings hatte ich mir davon bisher leider noch nichts angenommen gehabt. Selbst schuld. Man sollte eben nicht immer alles anders machen wollen als die eigenen Eltern. Aber ich schweife ab.
Nun wird unser kleines Baby also schon zehn Jahre alt. Das heißt auch, dass er bereits zehn Jahre die Chance hatte, alles Wesentliche von Vater und Mutter zu lernen. Doch da verhält es sich wie bei mir und der Nivea- Creme von meinem Vater. Man hat tatsächlich den Eindruck, Jamie hat die wunderbare Gabe, seine Ohren auf Durchzug stellen zu können. Wir können ihm da gar nicht richtig böse sein, wenn er wieder einmal etwas nicht mitbekommen hat. Das macht der ganz offensichtlich nicht mit Absicht. Seine Ohren filtern für ihn eben alles Wesentliche raus – und sagen ihm erst dann Bescheid, wenn es wirklich wichtig für ihn wird. Stichworte wie Handy, Fernsehen oder Tablet funktionieren in 99,9 Prozent aller Fälle richtig gut, wenn man möchte, das Jamie die Kommunikation mit einem von uns beiden aufnimmt. Andersherum kann man es sich sparen, über die Wörter Hausaufgaben, Zähneputzen oder Ins-Bett-gehen mit ihm in Kontakt zu treten. Da sprichst Du lieber mit den Kaulquappen im Einmachglas und lobst sie für ihre bemerkenswerte Selbstständigkeit. Naja. Es gibt also noch eine ganze Menge zu tun, bevor unsere beiden Jungs alleine auf die Welt da draußen losgelassen werden können. Und manchmal habe ich den Eindruck, Sophia sei das auch ganz recht so. Nicht, dass sie bewusst meine Bemühungen torpediert, Jamie und Charlie ein wenig unabhängiger von Mama und Papa werden zu lassen, aber manchmal hat es schon den Eindruck, sie will den Moment, bis die beiden komplett ohne uns klarkommen, so lange wie möglich hinauszögern. Und als ich ihr erzählte, dass immerhin vier Prozent aller Jungs auch im Alter von 40 Jahren noch zu Hause bei den Eltern wohnen, da hat sie ganz verträumt geguckt und mit einem verzückten Lächeln vor sich hingehaucht: »Meine Babys!« Das wird wohl nie aufhören. Und das ist auch gut so. Schließlich sind wir Menschen nicht nur eine sonderbare, sondern auch eine ganz besondere Spezies. Ihr natürlich auch, liebe Kaulquappen!
Ben Redelings

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