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Die Couch-Akrobaten

Bildnachweis: Jörn Stollmann

Ich werde langsam alt. Und erwachsen. In genau dieser Reihenfolge. Und das ist ein seltsames Gefühl. Neulich sagte ich ein paar wirklich wichtige Sätze zu Jamie und ertappte mich dabei, wie ich jedes einzelne Wort tief in meinem Inneren noch einmal leise mitsprach. Es war die glockenhelle Stimme meines eigenen Ichs, die ich da hörte. Plötzlich sah ich mich wieder als siebenjährigen Jungen in meinem Kinderzimmer, wie ich zwischen den bunten Spielsachen auf dem Teppich und den Hausaufgaben auf dem Tisch hin- und hertrottete. Komplett in mir selbst ruhend, mir keiner „Schuld“ bewusst. Klar, diese dämlichen Hausaufgaben mussten erledigt werden, aber deshalb musste ich sie ja auch nicht gleich toll finden. Vor allem, weil Spielen so viel mehr Spaß macht. Da ist es doch nur normal, wenn man zwischen diesen beiden Dingen so sehr hin- und hergerissen ist, dass man ein wenig pendelt. Denkst du!Meine Eltern hatten damals für dieses unstete Verhalten genauso wenig Verständnis wie wir heute. Und so sagten sie mit den fast identischen Worten wie wir über dreißig Jahre später: »Kannst du nicht einmal eine Sache in Ruhe zu Ende bringen?« Oder: »Immer lässt du dich ablenken!«Und: »Mit ein bisschen mehr Ausdauer und Konzentration wärest dujetzt schon lange fertig und könntest spielen!«Aus der Sicht der Erwachsenen klingen alle drei Sätze komplett logisch. Wenn man jedoch selbst wieder wie ein Kind denkt und fühlt, drehen sich auf einmal noch so schlüssige Sachverhalte radikal um. Und so überlegt man als kleiner Junge simpel wie nachvollziehbar: Wieso soll man sich denn abhetzen, damit man fertig wird, um dann erst zu spielen, wenn man doch von Anfang an beides machen kann? Mit zwei Worten geantwortet: Châpeau. Volltreffer!Und dann kam dieser Tage noch eine weitere wichtige Erkenntnis hinzu: Mit der Ausdauer ist es im Allgemeinen auch nicht so schlecht bestellt, wie man in diesen nervenaufreibenden Momenten des Hausaufgabenmachens versucht ist zu denken. Denn Ausdauer haben die Kleinen im Überfluss – nur leider nicht unbedingt dann, wenn man sie sich wünschen würde.Vor ein paar Wochen schlug an Jamies Schule eine Zirkusfamilie ihr Zelt auf. In genau fünf Tagen lernten die wissbegierigen und eifrigen Schülerinnen und Schüler, was es heißt, ein Zirkuskind zu sein. Erstaunlich, was so kleine Jungs und Mädchen in so kurzer Zeit alles erlernen und auf die Bühne bringen können. Das hat allen großen Spaß bereitet und die abschließende Show war ein Riesenerfolg. Auch Jamie wuchs in diesen magischen Minuten in der Manege über sich hinaus und legte eine 1-a-Akrobatiknummer hin. Sein muskulösknackiger Lehrer stemmte unseren Jungen in die Höhe und ließ ihn durch die Lüfte schweben. Wow. Das hatte Klasse.Ein, zwei Tage brauchte Jamie danach, um sich von diesem kolossalen Erlebnis zu erholen, dann war er bereit für neue Höhenflüge. Dumm nur, dass das Zirkusprojekt beendet war und der gelenkige Akrobatik-Jüngling bereits neue Schüler in die Geheimnisse seiner spektakulären Kunstfertigkeiten einwies. Als Jamie das realisierte, maulte er kurz rum, entschied dann aber recht spontan, dass ein Rollentausch fürs Erste die beste Lösung sei. Er übernahm selbstverständlich den Part des muskelbepackten Lehrers und Charlie wurde sein Schüler. Das ging gefühlte drei Sekunden lang gut. Dann hatte Charlie vom gefährlichen und vor allem schmerzhaften Akrobatenleben die Schnauze voll und verließ weinend die Manege.Da stand er nun, der einsame Artist ohne Partner. Ein weniger ausdauernder Mensch hätte womöglich diesen Augenblick genutzt, um die Sache ein für allemal zu beenden. Doch Jamie bewies eine tüchtige Portion Beharrlichkeit und hatte auch schon eine Idee, wie seine Akrobatik-Karriere fortgesetzt werden könnte. Dumm nur für mich, dass ich in diesem Plan die Hauptrolle spielte. Und so lag ich bereits wenige Minuten später auf der Couch und streckte auf Kommando meine beiden Füße in die Höhe. Das Besondere: Auf meinen Füßen saß balancierend mein siebenjähriger Sohn. Das wackelte alles nicht nur bedenklich, sondern war auch sauschwer. Da die ganze Nummer natürlich nicht auf Anhieb klappte, hatte ich zwischendurch aus einem Meter Fallhöhe fünfundzwanzig Kilo auf meinem Bauch – und nicht nur dort, wenn Sie verstehen, was ich meine – sitzen. Doch meinem Schmerz konnte ich mich nicht entsprechend hingeben, da Jamie mich gleichzeitig wüst beschimpfte, was für ein unfähiger Akrobat ich sei – sein Partner beim Zirkus hätte das alles locker drauf gehabt. Und was für Muskeln der erst gehabt hätte. Der Wahnsinn!Wie hatten die Augen meiner Frau geleuchtet, als sie Jamie auf den starken Armen des durchtrainierten Artisten-Beaus durch die Manege tanzen sah. Nun beobachtete sie mit einem mitleidigen Blick das unwürdige Couch-Schauspiel in unserem Wohnzimmer. Der Vorhang war für mich eigentlich schon lange gefallen, doch der Nachwuchs-Akrobat ließ nicht locker. Nun musste auch Charlie wieder dran glauben. Ich lag auf dem Rücken, streckte Jamie auf meinen Füßen sitzend nach oben und hievte gleichzeitig Charlie stehend auf meinen Händen in die Lüfte.Was folgte war das klassische Theorie-Praxis-Dilemma. Kaum war die Figur vollendet, krachte sie auch schon wieder zusammen. Jedes Mal aufs Neue. Es sollte einfach nicht sein. Doch Jamie kannte kein Pardon. Die Nummer musste einstudiert werden, bis sie saß. Selbst als es mir mit allerletzter Kraft gelang, auf der Fernbedienung den AN-Schalter zu drücken, ließ sich unser ausdauernder Siebenjähriger nicht von seinem Plan abbringen. Mit strafendem Blick nahm er mir die Fernbedienung ab und drückte auf AUS. Weiter ging’s.Am Abend im Bett legte Sophia mir die Decke über den geschundenen Körper, gab mir einen Kuss und sagte: »Weißt du, was ich gerade gedacht habe?« Ich versuchte den Kopf zu schütteln. Sie schaute mich zufrieden an: »Wenn ich an heute denke, bin ich echt froh, dass Jamienicht bei den Feuerschluckern gelandet ist …!«Ben Redelings

Bildnachweis: Jörn Stollmann

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