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Sensomotorische Entwicklungsstörungen

Bildnachweis: Image by _Alicja_ from Pixabay

Szenen aus einem Kindergarten: Auf dem Spielteppich werden Klötz­chen zu Türmen gestapelt, am Maltisch entstehen bunte Kunstwerke, in der Bastelecke wird fleißig geschnipselt und draußen im Hof wird getobt und Ball gespielt. Stellen wir uns nun Linus vor. Linus ist viereinhalb Jahre alt und leidet an sensomotorischen Entwicklungsstörungen. Beim Malen bricht er regel­mäßig die Mine ab, weil er zu fest aufdrückt. Er kann seine Arme, Beine und seinen Kopf zwar benennen und darauf zeigen, aber malen kann er sie nicht. Er schafft es auch nicht, Papier mit einer Schere zu schneiden.

Beim Toben mit den andern Kindern bleibt er oft zurück, stolpert oder kann den Ball nicht fangen. Das macht ihn dann traurig oder wütend. Weil er so undeutlich redet, verstehen ihn die anderen Kinder manchmal nicht. Dann kann es sein, dass Linus richtig sauer wird. Dann beißt und kneift er und zieht den anderen an den Haaren. Als er sich seine Jacke anziehen will und der Knopf einfach nicht durch das Knopfloch passen will, bekommt er einen Wutanfall. Er schreit und brüllt und will sich gar nicht mehr beruhigen lassen.

Wir haben uns Linus nur ausgedacht. Aber Linus ist ein besonderes Kind. Linus ist durch seine sensomotorische Entwicklungsstörung in seiner Ent­wicklung weit hinter den anderen Kindern in seiner Kindergartengrup­pe zurück. Denn das Zusammenspiel zwischen seinen Sinneswahrneh­mungen und der daraus resultierenden Steuerung und Kontrolle von Bewegungen ist beeinträchtigt. Kinder wie Linus können schon seit der Geburt oder dem frühen Kindesalter Reize, die sie über die Sinne wie Se­hen, Riechen, Fühlen, Spüren und Hören empfangen, nur eingeschränkt wahrnehmen und verarbeiten. Das führt dazu, dass sie nicht in der Lage sind, komplexe Bewegungsmuster zu erlernen. Denn erst anhand der In­formationen, die das Gehirn über beispielsweise unseren Gleichgewichts-und Sehsinn sammelt, sind wir in der Lage, uns im Raum zu orientieren und unsere Lage jederzeit zu stabilisieren, das heißt zum Beispiel einfach aufrecht zu sitzen. Um uns gezielt fortzubewegen, nach etwas zu greifen oder um einen Klötzchenturm zu bauen, einen Ball zu fangen oder ei­nen Knopf zu schließen, bedarf es noch komplexerer Koordinations- und Kombinationsvorgänge im Gehirn.

Die Ursache für die sensomotorische Entwicklungsstörung ist meist gar nicht so leicht auszumachen. Prof. Dr. Thomas Lücke, Di­rektor der Universitätskin­derklinik Bochum erklärt: „Sensomotorische Entwick­lungsstörungen können sowohl bei Kindern mit zugrundeliegenden neu­rologischen oder anderen Erkrankungen, als auch bei Frühgeborenen vor­kommen. Sie können aber auch bei gesunden Kindern ohne feststellbare körperliche oder organische Erkrankungen auftreten.“ Sie können Spätfol­gen schwerer Geburtsverläufe sein. Auch Infektionen, Chromosomende­fekte und Syndromerkrankungen wie das KISS-Syndrom können ursächlich sein. Da auch Stressbelastungen in der Schwanger­schaft eine Ursache sein können, lässt sich im Nachhinein meist gar kein genauer Grund mehr ausmachen.

Eine sensomotorische Entwicklungsstörung kann sich wie bei Linus in ganz unterschiedlichen Bereichen äußern, je nachdem, welche Sinne eingeschränkt sind. Neben Störungen der Wahrnehmungs- und Raum­kontrolle und des Gleichgewichts- und Koordinationssinns kommt es zu Einschränkungen im feinmotorischen (Schneiden, Malen) oder grobmo­torischen Bereich (Rennen, Ballspiele, Treppensteigen). Bei Einschrän­kung der visuellen Wahrnehmungen fällt das Lesen oder Beschreiben von Bildern schwer. Das Nachmalen oder freie Malen von Formen klappt nicht. Aufgrund von Störungen der Mund- und Sprechmotorik neigen  die betroffenen Kinder zu vermehrtem Speichelfluss und undeutlichem Sprechen. Kinder, die vor allem an Beeinträchtigungen des Hörverstehens leiden, haben oft Probleme damit, Geräusche aus Umgebungslärm he­rauszufiltern. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite sind meist die Folge. Viele Betroffene tun sich schwer, rechts und links zu unterschei­den oder räumliche Beziehungen zu analysieren. Die Kinder malen dann häufig Bilder, auf denen Gegenstände auf dem Kopf stehen, über dem Boden schweben oder chaotisch über- und nebeneinander stehen. Und wenn das Kind merkt, dass es den Gleichaltrigen unterlegen ist, kommen meist noch Sozialisierungsprobleme hinzu. Sie ziehen sich aus Scham zu­rück, oder werden – wie Linus – zu jähzornigen Wutzwergen.

Sollten Eltern in ihrem eigenen Kind Parallelen zu Linus und seinem Verhalten sehen, oder fallen ihnen andere Entwicklungen auf, die sich von der Entwicklung Gleichaltriger unterscheiden, sollten die Auffälligkeiten mit der Kinderärztin oder dem Kinderarzt abgeklärt werden. Prof. Dr. Thomas Lücke rät, die Entwicklung des eigenen Kindes im Auge zu behalten: „Alarmsignale sind anhaltende Probleme. Grundsätzlich lässt sich sagen: Immer dann, wenn die Entwicklung anders verläuft als bei Gleichaltri­gen – zum Beispiel wenn Kinder sich ausschließ­lich mit Spielmaterial von deutlich jüngeren Kin­dern beschäftigen, wenn Kinder durch Schwie­rigkeiten sichtlich frustriert, traurig oder wütend sind oder wenn soziale Probleme, entstehen – sollte ein klärendes Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt gesucht werden.“ Oft zeigen sich Entwicklungsverzögerungen auch bei den vorge­schriebenen Früherkennungsuntersuchungen.

Aber ist mein Kind vielleicht einfach nur ein „Spätzün­der“? Wann ist eine verzögerte Entwicklung eigentlich ein wirkliches Problem? „Das kann nur der Verlauf zei­gen“, so Prof. Dr. Thomas Lücke. „Bei einer Verzögerung kommt es zu einer Aufholentwicklung, bei einer Störung geht die Schere zum gleichaltrigen normalentwickelten Kind auf.“ Liegt also lediglich eine Verzögerung vor, holt das Kind die Entwicklung in der Regel nach. Bei einer Störung fällt es jedoch im Vergleich zu Gleichaltrigen immer weiter zurück.

Die Auswirkungen dieser Beeinträchtigungen sind so komplex, dass Linus‘ Eltern oft gar nicht genau wissen, an welcher der vielen „Bau­stellen“ sie nun eigentlich ansetzen sollen: Sprachvermögen, Fein-oder Grobmotorik? Und was ist mit seinem aggressiven Verhalten? So vielfältig, wie sich sensomotorische Entwicklungsstörungen äußern, so vielfältig sind auch die Behandlungsmöglichkeiten. Sie haben jedoch alle ein gemeinsames Ziel: Die Förderung des Kindes in den Bereichen, in denen es Defizite aufweist, so dass es im Alltag, in der Schule, beim Sport und beim sozialen Miteinander wieder besser mitwirken kann. Prof. Dr. Thomas Lücke von der Bochumer Kinderklinik: „Besonders be­währt haben sich dabei Ergotherapie, Logopädie und die heilpädago­gische Frühförderung.“ Viele betroffene Familien berichten auch von Behandlungserfolgen durch andere Therapieformen wie Reittherapie oder neurophysiologischen Krankengymnastikformen nach Bobath und Vojta.

So individuell wie das Kind, kann deshalb auch die Therapiegestaltung sein. Meist führt eine Kombination mehrerer Ansätze langfristig zu Erfolgen.

Fachliche Hilfe und Unterstützung bei sensomotorischen Entwicklungs­störungen gibt es in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ). Dort arbeitet fachliches Personal aus medizinischem, psychologischem und päda­gogisch-therapeutischem Gebiet fachübergreifend zusammen. Nach der Überweisung durch die Kinderärztin bzw. den Kinderarzt erfolgt ein umfassendes Erstgespräch im SPZ. Dabei wird das Kind nicht nur umfassend untersucht, es wird auch die Krankengeschichte detailliert beleuchtet und ein individueller Untersuchungs- und Behandlungsplan erstellt. Durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbereiche sparen die Betroffenen viel Zeit, da die Wege zu den verschiedenen Spezialisten möglichst kurz sind. Sozialpädiatrische Zentren gibt es mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Schwerpunkten in mehreren Ruhrgebietsstädten, unter anderem in Bochum, Dortmund, Gelsenkir­chen, Hagen und Essen.

Bettina Fischer

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